Standpunkte 4/2019
senderichtlinie, dass sie die Arbeitnehmer- freizügigkeit nicht so achtet, wie eigentlich nötig. Muss nicht gerade die Exportnation Deutschland die Dienstleistungsfreiheit verteidigen und darauf dringen, einen möglichst einfachen Einsatz von Mitarbei- tern deutscher Firmen im EU-Ausland zu gewährleisten? Hahn: Da bin ich bei Ihnen. Eine Viertel- million deutsche Firmenmitarbeiter werden pro Jahr entsandt. Dafür brauchen wir klare, aber einfache Standards und kein Bürokra- tie-Monster. Bei der anstehenden Reform müssen wir genau hinschauen, dass nicht unter dem Deckmantel des Arbeitsschutzes in Wahrheit nationaler Protektionismus be- trieben wird. Andresen: Da muss ganz simpel gefragt werden: Was hilft den Menschen? Sind die Regeln gut, weil sie Sozialdumping verhin- dern oder sind sie schlecht, weil sie nur Bü- rokratie produzieren? Wir waren schon in der letzten Legislaturperiode für eine drei- monatige Generalbescheinigung für Ent- sendungen, was leider an Sozialdemokraten und Konservativen gescheitert ist. Standpunkte: Was folgern sie aus der un- endlichenGeschichte des Brexits für Europa? Andresen: Wir müssen uns bemühen, den jungen Menschen in Großbritannien trotz- dem eine europäische Perspektive zu er- öffnen. Und wir müssen klären, was ohne die 12 bis 14 britischen Milliarden mit dem EU-Haushalt passiert. Das wird eine span- nende Debatte. Hahn: Immerhin hat das Gezerre die üb- rigen europäischen Länder nicht entzweit, das ist eine gute Sache. Ich glaube, dass die Wertschätzung für das große Projekt Europa in den übrigen 27 Mitgliedsländern gestie- gen ist und weiter steigt, wenn immer mehr erkennbar wird, wie stark der Brexit den Bri- ten schadet. Standpunkte: Brauchen wir in Zukunft ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, um ein engeres Zusammenwachsen Kerneuropas mit Deutschland, Frankreich und den Bene- lux-Ländern voranzutreiben? Andresen: Nein, eine Spaltung in reichere und ärmere Länder, in erste und zweite Klas- se hilft nicht weiter. Hahn: Das sehe ich auch so. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass einige Länder in be- stimmten Themenbereichen wie beispiels- weise Verteidigung vorangehen und eine Vorbildfunktion übernehmen. Standpunkte: Die Grünen wollen alle The- men unter das Primat der Klimaverträglich- keit stellen, die FDP nicht. Was heißt das in Brüssel? Hahn: Klima- und Umweltpolitik sind ur- liberale Themen, das war schon unter Gen- scher als Innenminister so. Ökonomie und Ökologie müssen zusammen gedacht wer- den, das beweisen gerade deutsche Unter- nehmer. Wir brauchen Technologieoffen- heit und Innovationen, um einerseits Le- bensstandard und soziale Errungenschaften in Europa zu halten, andererseits effektiven Klima- und Umweltschutz zu betreiben. Andresen: Das klingt schön, faktisch reicht es aber nicht. Die Automobilindustrie hat beispielsweise bei Klima- und Umweltschutz versagt und tut von allein viel zu wenig. Jetzt ist es an der Zeit staatlicherseits Standards klar durchzusetzen. Dazu gehört auch das Ende des Verbrennungsmotors. Hahn: Das sehen wir anders: Wir haben Vertrauen in unsere Ingenieure und in die Marktwirtschaft. Neue Technologien in der Entstehung und in der Etablierung fördern, das ist unsere Aufgabe. Und den CO 2 -Aus- stoß über Maßnahmen wie den Zertifikate- handel eindämmen. Andresen: Das könnte zu wenig sein. Eine Klimasteuer wäre schneller zu etablieren und könnte Vorbildcharakter entfalten und würde dazu führen, mehr auf CO 2 -ärmere Produktion umzustellen. Wir brauchen In- novationen, ja, aber haben keine Zeit darauf zu warten, dass Dinge von selbst passieren. Hahn: Steuern ändern nicht wirklich das menschliche Verhalten – die Tabaksteuer ist das beste Beispiel. Zudem kann eine Steuer nicht die Menge des Ausstoßes regulieren, Zertifikate können das schon. Wir brauchen marktwirtschaftliche Mechanismen, weil die wirken. Standpunkte: Wir danken Ihnen für das Gespräch. Das Gespräch führten Anton Bauch (NORD METALL Internationale Beziehungen) und Alexander Luckow Nominierung sind sie beide unzufrieden? Andresen: Ja, wir sollten das Wahlrecht so ändern, dass an den europäischen Spit- zenkandidaten kein Weg mehr vorbeiführt, wenn die nächste Kommissionspitze be- stimmt wird. Dazu brauchen wir ein ein- heitliches europäisches Wahlrecht mit zent- ralen Listen, die weder nach Bundesländern wie bei der CDU/CSU in Deutschland noch nach EU-Staaten unterscheiden. Wer dann in ganz Europa vorn ist, wird auch vom Par- lament gewählt werden. Hahn: Wir Liberale haben uns trotz der Missachtung des Spitzenkandidatenprin- zips für Ursula von der Leyen entschieden, gerade weil sie Reformen beim Wahlrecht angekündigt hat. Jetzt werden wir sie beim Wort nehmen, um die europäische Demo- kratie nach voranzubringen. Ab 2021 soll es eine europäische Zukunftskonferenz geben, in der für zwei Jahre die anstehenden Wahl- rechtsreformen diskutiert werden. Da müs- sen wir Druck machen, damit die Regeln bis zur nächsten Europawahl vereinheitlicht sind. Am Ende muss das Parlament gegen- über den Staats- und Regierungschefs ge- stärkt werden. Standpunkte: Ist es realistisch, dass die 27 – oder demnächst 26 – Mitgliedsländer eine schlankere EU-Kommission und ein einflussreicheres Parlament akzeptieren? Hahn: 16 Kommissare würden nach meiner Einschätzung reichen, vertraglich wäre das möglich. Deutschland und Frankreich, als große Länder, könnten mit gutem Beispiel vorangehen und einen gemeinsamen Kom- missar benennen. Wichtig ist es jetzt auch, die Osteuropäer bei der Ressortverteilung der Kommissare stärker zu berücksichti- gen, da sie bei den Spitzenpositionen nicht bedacht wurden. Obwohl manche Regie- rungen dort EU-kritisch agieren, ist die Eu- ropa-Begeisterung bei den Menschen sehr groß. Standpunkte: In der Arbeits- und Sozial- politik haben sich nationale Zuständigkei- ten bewährt, gleichwohl wollen manche den Mindestlohn und andere Standards europä- isch administrieren – warum? Andresen: Europa braucht auch starke so- ziale Leitplanken, wenn es ein starker Wirt- schaftsraum mit freiem Warenaustausch und echter Arbeitnehmerfreizügigkeit blei- ben will. Nur so können wir Armut bekämp- fen und die EU auch sozial zusammenhalten. Hahn: Wir sollten die unterschiedlichen nationalen Bedingungen nicht aus dem Auge verlieren. Ein Mindestlohn muss sich an ihnen orientieren und nicht an zentralen Festlegungen. Außerdem sollten wir die Ta- rifautonomie respektieren, die sich gerade in Deutschland sehr bewährt hat. Standpunkte: Die EU beweist leider mit bürokratischen Absurditäten wie der Ent- Europaparlamentarier-Debatte im gläsernen Teehaus auf dem Dach des Hauses der Wirtschaft in Hamburg: Svenja Hahn (FDP) und Rasmus Andresen (Bündnis 90/Die Grünen). Foto: Christian Augustin 36 4/2019 Standpunkte NORDMETALL 37 4/2019 Standpunkte NORDMETALL
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