Standpunkte 4/2018

Die Fahrt nach Großbritannien wird, so viel ist rasch klar, eine Reise ins Ungewisse. So heftig die Diskussio- nen, so vielschichtig die Details und so unverrückbar die Drohkulissen auch scheinen – fast alle Gesprächs- partner eint die Hoffnung, dass buchstäblich in letzter Minute doch noch eine Einigung gefunden wird: über die Nordirland-Frage, die britischen Zahlungen in die Brüsseler Kasse und eine politische Erklärung, wie das Vereinigte Königreich nach seinem Austritt die Bezie- hungen zur EU gestalten will. Die Seefahrernation versus Brüssel Ob das No-Deal-Szenario eintritt oder es zu einem ge- ordneten Austritt kommt, dessen wirtschaftlichen Fol- gen zwar unschön, aber verkraftbar wären, ist nicht nur eine Frage des Verhandlungsgeschicks, sondern auch der historischen und kulturellen Prägung: Während die EU auf einen verlässlichen Rechtsrahmen und die Ein- haltung der gemeinschaftlichen Regeln pocht, ist den Briten – einer Seefahrernation, die gelernt hat, nicht ge- gen Stürme anzukämpfen, sondern mit den Wellen zu segeln – ein demokratisches Votum heiliger als alle Rechtstaatlichkeit; sie verharren lieber in einem unge- regelten Zustand, statt das Volk nochmals in einemwei- teren Referendum zu befragen. Wo könnte man diesem Wesen der Briten besser nach- spüren als im berühmten Restaurant „Rules“, das vor ge- Fünf Tage lang hat der NORDVERBUND den Motiven der Briten für den Austritt aus der EU nachgespürt, hat in Gesprächen mit Politik, Wirtschaft und Wissenschaft die Konturen des Brexits und dessen Folgen zu ergründen versucht. Am Ende steht die Er- kenntnis: Noch sind fast alle Fragen offen. Wird es noch recht- zeitig vor dem 29. März 2019 eine Austrittsvereinbarung zwi- schen EU und UK geben? Muss die dann einsetzende Übergangsfrist womöglich über den 31. Dezember 2020 hinaus verlängert werden? Haben die künftigen Partner dies- und jenseits des Ärmelkanals überhaupt eine ge- meinsame Vorstellung davon, wie sie ihr künftiges Mit- einander ausgestalten wollen? Zweifel sind angebracht, zumal das Vorhaben einer Quadratur des Kreises gleich- kommt: Die Briten möchten weiter möglichst eng mit der EU im Geschäft bleiben, ohne sich Brüssel unterzu- ordnen; die EU wiederum muss den Austritt so unat- traktiv gestalten, dass er keine Nachahmer findet. Parallel dazu hat die britische Innenpolitik ihre eigene Agenda. Denn die Parteitags-Saison steht unmittelbar bevor, und Premierministerin Theresa May muss auf demTreffen der Tories um ihren Rückhalt in der konser- vativen Partei kämpfen. „Mein Deal oder kein Deal“ ist dieWahl, die sie ihremParlament lässt. Doch wie dieser Deal aussehen wird und welche Regierungsformation ihn dann umsetzen muss, ist zu dem Zeitpunkt, als die drei im NORDVERBUND zusammengeschlossenen Ar- beitgeberverbände (NORDMETALL, NiedersachsenMe- tall und VME Berlin-Brandenburg) zu ihrem diesjähri- gen Management-Forum aufbrechen, völlig offen. nau 220 Jahren gegründet wurde und immer wieder als prächtige Kulisse für TV-Serien und Kinofilme genutzt wird. Hier eröffnet Oliver Schramm, Leiter der Wirt- schaftsabteilung der deutschen Botschaft, den ebenso informativen wie vertraulichen Austausch. Denn das ist in dieser sensiblen Phase Vorbedingung aller Gespräche, welche die Delegation um NORDMETALL-Präsident Thomas Lambusch, VME-Präsident Dr. Frank Büchner und BDA-Präsident Ingo Kramer vor und hinter den Ku- lissen führt: Alles Gesagte muss im Raum bleiben. Der Norden als Exportchampion Die Räume allerdings wechseln. Amnächsten Tag ist der Royal Automobile Club Ort des Geschehens. Zunächst gibt Handelskammer-Geschäftsführer Dr. Ulrich Hoppe einen detaillierten Überblick über das politische und wirtschaftliche Geschehen, dann schildern Fergus McReynolds aus dem Brüsseler Büro und Tim Thomas aus der Londoner Zentrale des britischen Arbeitgeber- verbands EEF ihre Einschätzung der Lage. Mit Phil Earl, dem für den Warenaustausch zuständigen Abteilungs- leiter des Brexit-Ministeriums und seinem Team disku- tieren die 20 Teilnehmer des Management-Forums über die geplanten Zollregelungen – nicht ohne Grund, denn die Exportquote in den sieben norddeutschen Bundes- ländern ist mit 16,7 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt (7,2 Prozent). Klar, dass man an der Küste besonders sorgenvoll auf die britische Insel blickt. Immerhin 8,5 Milliarden Euro Exportvolumen aus Norddeutschland und 4,6 Milliarden Euro Einfuh- ren von der Insel stehen auf dem Spiel. Diese Sorgen werden aber nicht von allen geteilt. Gisela Stuart, langjährige Labour-Abgeordnete aus Birming- ham und Treiberin der Brexit-Kampagne „Change Bri- tain“, sieht die künftigen Investitionsentscheidungen der Firmen kaum vom Brexit beeinflusst. Eine konkrete Vorstellung der Brexiteers für die Zeit nach demAustritt entwickelt sie zwar nicht, gibt aber ein sehr lebhaftes Beispiel für die insulare Gemütslage vieler Briten – und deren Debattierfreude, die rasch auf die Delegationsteil- nehmer überspringt. Am Ende fühlt sich mancher Teil- nehmer so wie der Vesper-Martini, zu dem der James- Bond-Autor Ian Fleming hier im „Dukes“ inspiriert wur- de: nicht gerührt, sondern kräftig durchgeschüttelt. Im altehrwürdigen Oxford reichen die beiden Professo- ren Katrin Kohl und Hartmut Mayer Erklärungsmuster für den Brexit nach: Das jahrelang von der britischen Politik genährte Gefühl der Gängelung durch Brüssel und der dann von den Brexiteers geschürte Wunsch, diese Fesseln endlich abzustreifen, sind in der Bevölke- rung so weit verbreitet, dass selbst der Verweis auf die Gefahren für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze nicht verfängt – erst recht nicht bei der abgehängten Unterschicht, die ohnehin nichts mehr zu verlieren hat. Denen ist es egal, ob Londoner Finanzmanager um ihre Jobs oder der weiße Mittelstand um seine Reihenhäuser bangen müssen. Erste Vorboten solcher Erschütterungen deuten sich schon an: Am gleichen Tag, als die Delegation die MINI-Fertigung inOxford besucht, kündigt BMWan, die Werksferien vom Sommer auf den April vorzuziehen, um drohenden Logistikproblemen und Lieferengpässen vorzubeugen. Denn wenn sich die Lastwagen im Tunnel unter dem Ärmelkanal stauen, ist an Just-in-time-Pro- duktion nicht mehr zu denken. Auch Airbus hat bereits im Juni die Warnglocken läuten lassen. Rund 14.000 Ar- beitsplätze und sechs Milliarden Pfund Umsatz in Groß- britannien hängen von dem Luftfahrtkonzern ab; den weltweiten Schaden eines harten Brexit hat Airbus auf rund eine Milliarde Euro beziffert – für jede Woche, die der Warenverkehr mit den fast 1.000 globalen Zuliefe- rern und der Personalaustausch mit der EU (80.000 Ge- schäftsreisen jährlich) unaufholbar ins Stocken geriete. Vor einigen Monaten noch haben die Brexiteers solche Warnungen als Panikmache abgetan. Inzwischen, so hört man allerorten, kehre zunehmend Realismus in die britische Politik ein, und man höre sehr genau auf die Sorgen und Nöte der Firmen – gerade so, als hätte man sich den Slogan zu Herzen genommen, der über dem Airbus-Werk in Broughton hängt, in dem die Trag- flächen des A350 montiert werden: Our Future. Together. nf . Liverpool Oxford London Broughton Congleton Manchester Reise ins Ungewisse Management-Forum Großbritannien Grafiken: Shutterstock 38 4/2018 Standpunkte NORDMETALL

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